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Sonntag, 16. November 2014

Ich bin halt nicht von hier






Ich bin halt nicht von hier



„Mir geht es richtig schlecht“, lautet die Antwort der weisshaarigen Frau auf meine Frage nach ihrem Befinden. Sie sitzt alleine am ersten Tisch im Kaffee des Altersheims.
„Ach, was ist denn heute nicht gut, Frau Bürgisser“, frage ich etwas scherzhaft.
Dabei lächle ich sie an, nichts ahnend.

„Ich mag gar nicht darüber reden“, so die mürrische Antwort nach einer kurzen Pause.
Ihre sonst leuchtenden Augen scheinen mir heute stumpf und freudlos und das doch meist freundliche Gesicht voller Runzeln, zerfurchter den je. Schnell senkt sich ihr Blick wieder auf den Tisch mit der fast leeren Kaffeetasse und dem verschmierten Kuchenteller.
Dabei sackt die adrett gekleidete Frau sichtbar etwas zusammen und verharrt geknickt auf ihrem Stuhl.
So kenne ich Anna Bürgisser gar nicht. Gerade sie, die doch sonst immer ziemlich aufgestellt und meistens fröhlich ist.
Aber heute sieht sie gar nicht zufrieden aus, ich merke es erst jetzt.
Darum setzte ich mich ihr gegenüber auf die andere Tischseite und warte erst mal ab – wir haben ja Zeit.

Inzwischen bringt man mir meinen Kaffee; ich zahle in sogleich und kippe den Rahm in die Tasse. Den Zuckerbeutel lege ich vor mir auf den Tisch. Chantal hat wieder einmal vergessen, dass ich keinen brauche. Eigentlich bräuchte ich auch nie einen Kaffeelöffel – aber was solls? Nur das beigelegte, luftdichtverschlossenen Gebäck – davon hätte ich auch zwei genommen.

„War etwa der Schokoladenkuchen nicht gut?“, versuche ich etwas später das Gespräch mit einem lockeren Spruch wieder aufzunehmen. Unschlüssig wischt die zierliche Frau einen Kuchenkrümel von der nackten Tischplatte.
„Nein, nein, der Kuchen war schon recht.“ Ich bekomme genau die Antwort, die ich erwartet habe. Denn eine Sachertorte zum Nachtisch, das ist doch bei den meisten Heimbewohner beliebt.

„Es ist etwas anderes“, fügt die mehr als Neunzigjährige nach einer kurzen Pause an und schiebt dabei den leeren Kuchenteller gegen die Tischmitte.
Ich warte – lasse Frau Bürgisser ein wenig Zeit, denn ich merke, dass sie mir den Grund schon noch mitteilen möchte.

„Etwas ist immer“, sage ich nach einiger Zeit, nur damit wieder einmal etwas gesagt ist.
Aber sie schweigt weiter – scheint über eine Sache nachzugrübeln und schüttelt dabei leicht den Kopf.
Es muss sich um etwas Schwerwiegenderes handeln, das sie belastet. Denn die sonst recht fröhliche und positiv denkende Bewohnerin ist doch im allgemeinen nicht gerade aufs Maul gefallen.
Ach, nun rühre ich doch mit dem Löffel in meiner Kaffeetasse – für was denn eigentlich, so ohne Zucker?

„Hat Sie jemand geärgert, Frau Bürgisser?“ frage ich ganz vorsichtig über den Tisch, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Frau Bürgisser streicht mit beiden Händen ein unsichtbares Tischtuch glatt und sagt ganz leise, eher zu sich selbst: „Das habe ich wirklich nicht verdient.....“

Ich warte gespannt, jetzt darf ich sie nicht mehr unterbrechen, jetzt muss ich einfach nur noch warten.
Hier in der Cafeteria des Alterszentrums lerne ich Geduld zu üben, einfach abzuwarten .......
Denn hier geht alles etwas langsamer, alles will gut überlegt sein.
Man hat hier nichts zu pressieren, denn es wartet niemand und nichts – höchstens irgendwann das Abendessen.

„Was glaubt denn die eigentlich ...“
Das ist von ihr wohl eher eine Feststellung, als eine Frage. Trotzig greifen dürre, schmale Hände nach der Papierserviette auf dem Dessertteller.

Anna Bürgisser wohnt schon fast zwei Jahre hier im Altersheim, aber sie ist eigentlich eine Auswärtige. Keine aus dem Städtchen – hat nie da gelebt, sondern drei Dörfer weiter. Aber dort hatte es keinen Platz im Heim, als sie wegen ihren Hüften aus dem Spital nicht mehr nach Hause gehen konnte.

„Sagt die doch, ich sei eine Lügnerin!“
Frau Brügger dreht und windet ihre Serviette zwischen den gichtigen Fingern und richtet sich dabei wieder etwas auf.
„Dabei lügt sie! - Die dumme Gans!“
Die letzten Worte presst sie förmlich durch ihre Zahnlücken, so, dass man sie kaum verstanden hat.

„Wer sagt, dass Sie eine Lügnerin sind?“, frage ich etwas überrascht.
„Nun, Frau Ächerli natürlich, diese dumme Kuh!“, zischt Frau Bürgisser wie eine Schlange. Sie sitzt jetzt wieder ganz gerade aufgerichtet auf ihrem Stuhl und stranguliert weiterhin ihre Serviette.

„Warum?“, frage ich knapp.
„Ja, weisst du ….., die Frau Ächerli sitzt doch beim Nachtessen an meinem Tisch. Gleich auf dem Stuhl neben mir.
Sie kommt immer etwas zu spät …., ist immer etwas in Eile, als ob sie noch so stark beschäftigt wäre. Die will sich doch nur wichtig machen. Und nobel tut die …..! War halt eine Geschäftsfrau, eine Reiche – sagt man. Tja, als ob das hier noch eine Rolle spielen würde.
Anna Bürgisser macht eine kurze Pause und holt Luft.

„Und dann klemmt die mir beim Abhocken (Absitzen) doch tatsächlich meine Finger zwischen den beiden Stuhllehnen ein!“
Frau Bürgisser streckt mir zum Beweis die Finger der rechten Hand entgegen. Ich sehe zwar nichts ausser Haut und Knochen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass das schmerzhaft war, so zwischen zwei Stuhllehnen – eingeklemmt!

„Nein!“ entfährt es mir entrüstet, „und dann?“
„Ha, weisst du, wie das schmerzt!“
Ich nicke betroffen. Die alte Frau ist jetzt ganz aus dem Häuschen und das Erzählen geht nun wie am Schnürchen.
„Dann habe ich mich eben ein wenig beschwert – habe gesagt, sie solle doch etwas aufpassen.... und, schon stand eine Pflegerin neben uns und wollte wissen, was den da los sei.“
Ich nicke gespannt: „Und dann?“
„Ja – ich habe ihr gesagt, was sich zugetragen hat – wie es war. Aber diese Frau Ächerli hat immer behautet, dass es gar nicht wahr sei und, dass ich lügen würde. Ich wäre eine Lügnerin! – ja, das durfte diese Person vor meinen Augen sagen!“

Anna Bürgisser ist jetzt voll in Fahrt. An den Nebentischen hat man mit dem Kartenspielen aufgehört. Alles lauscht gespannt.

„Nein, das hat sie gesagt?“
„Ja, vor allen am Tisch – der ganze Speisesaal hat mitgehört!“
Die Serviette in ihren Händen ist nur noch einen Haufen Fetzten.

„Aber Ihr habt Euch doch gewehrt, oder?“
„Ha, ich sagte, dass ich nicht mehr neben dieser frechen Person sitzen wolle.“
„Und ….?“
Anna Bürgisser knickt sichtlich wieder ein und sagt leise:
„Ich musste den Tisch wechseln! Sofort und vor allen. Alle haben dabei zugeschaut und getuschelt.“

„Oha, das tut mir aber leid, Frau Bürgisser.“
Ich ergreife die abgearbeiteten, zittrigen Hände mit der zerfetzten Serviette und streichle leicht über.
Der dunkle Schatten legt sich wieder über das Gesicht von Frau Bürgisser, die Falten werden wieder tiefer, die Augen wieder trüber. Gerade sehe ich noch einen wässerigen Schimmer, bevor sich ihr Blick wieder auf die Tischplatte senkt.

Von einer hauchdünnen Stimme ist zu vernehmen:
„Aber eben, ich bin halt nicht von hier......“



Autor: © isinor (Image-ID: 618602) / pixelio.de


Übrigens,
ich habe gerade heute eine weitere, schöne "Altersheim-Geschichte" bei meiner Blogger-Kollegin: Dekoratz  (klick) gelesen. Ein Klick lohnt sich!


.)

2 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Schöne Geschichte - Aber der Inhalt stimmt sehr nachdenklich. Hoffe, dass das Personal die Geschichte so aus Distanz auch mal lesen kann....Senioren sind trotz ihrer Lebenserfahrung sehr zerbrechlich und verletzlich.
T.O.&O.

Herr Oter hat gesagt…

Danke, T.O.&O.

Ja, es wäre schön, wenn solche Geschichten auch ab und zu die "richtigen Stellen" erreichen würden.
Sind es nicht manchmal die ganz kleinen Dinge, die ganz wichtig sind. Leider erkennt man sie oft nur von aussen und mit viel Geduld – und doch sind sie entscheidend.
Aber, ist es nicht überall so?

Liebe Grüsse
Re